Piehnat
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Das Internet vor 25 Jahren - Wie wir bloggten, chatteten und zockten

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Du sitzt vor deinem Röhrenmonitor, das 56k-Modem knattert wie ein alter Traktor und starrst auf den Netscape Navigator, während Minuten vergehen, bis sich die Seite aufbaut. Willkommen im Internet der frühen 90er, einer Welt, in der alles ein Experiment war. Jeder konnte Webmaster, Blogger oder Spieleentwickler sein, ohne dass Algorithmen diktierten, was man zu sehen bekam. Blinkende Texte, chaotische Framesets, Gästebücher als erste Kommentare und stolz mitlaufende Hit-Counter prägten den Look. Die Inhalte? Knallbunte „Über mich“-Seiten, heimliche Boygroup-Fanpages, Fotoalben mit 0,3-Megapixel-Kameras kurz gesagt: künstlerisches Chaos.

Die Nutzerzahl war noch verschwindend klein. 1995 war nur ein Prozent der Weltbevölkerung online, fünf Jahre später surften 361 Millionen Menschen durchs Netz. Bandbreitenprobleme machten jedes Foto zu einer Geduldsprobe. Ein 56k-Modem schaffte theoretisch 5,6 Kilobyte pro Sekunde, in der Praxis oft nur die Hälfte. Ein 1-Megabyte-Bild brauchte fünf bis zehn Minuten. Mit etwas Glück hatte man später ISDN mit stolzen 64 kbit pro Sekunde oder 128 kbit/s, wenn man zwei Leitungen bündelte und dafür doppelt zahlte. Selbst das fühlte sich an wie ein Warten auf Weihnachten, nur ohne Geschenke und mit einer Portion Frustgarantie.

Währenddessen passierte im Hintergrund das eigentlich Wichtige. Webmail-Dienste wie Hotmail (1996) machten E-Mails von jedem Rechner aus abrufbar. JavaScript und DHTML brachten Bewegung in die bis dahin staubtrockenen Seiten. Online-Banking und Shopping erhielten Mitte der 90er mit webbasierten Zugängen und verschlüsselter Kommunikation (SSL) ihre erwachsene Form. Der Netscape Navigator war der erste Browser mit integrierter SSL-Unterstützung. Plötzlich konnte man halbwegs sicher online shoppen und Kontostände checken. So legte das Netz still und heimlich das Fundament für Amazon, eBay & Co., während wir uns weiter von tanzenden Figuren und heftig blinkenden GIFs hypnotisieren ließen.

In dieser glorreichen Ära entstanden die ersten persönlichen Homepages. Dienste wie Beepworld, Funpic oder Arcor-Homepage spendierten ein paar Megabyte kostenlosen Webspace. Genug für ein paar Fotos, ein paar HTML-Seiten und vielleicht ein MIDI-File, das sofort loslegte. Wer es technisch ernst meinte, bastelte mit FrontPage oder Notepad seine eigene kleine Ecke im Netz. Ich hab heute noch Fotos meiner „PiehnatsWorld“ Seite, auf der ich damals stolz meine gesammelten Pokémon präsentierte. Und nein, der Name existierte natürlich nicht, weil ich riesiger Wayne’s World Fan war, überhaupt nicht..;-) Wer keine Lust auf Code hatte, nutzte WYSIWYG-Editoren wie FrontPage, die meistens mehr Chaos als Struktur produzierten. Projekte wie Neocities oder Tilde-Clubs bewahren diese DIY-Kultur bis heute.

Spätestens Ende der 90er wurde das Netz interaktiver. ICQ vergab UIN-Nummern statt Handynummern, und der legendäre „Uh-Oh!“-Sound begleitete jede Nachricht. MSN Messenger brachte personalisierte Emoticons und das „anstupsen“ - ein ziemlich nerviges virtuelles Zupfen am Chatfenster, um Aufmerksamkeit zu erzwingen. Wer textbasiert unterwegs war, nutzte IRC-Channels, die Ur-Vorfahren von Discord. Parallel entstanden die ersten Community-Plattformen mit Profilen und Chatmöglichkeiten. Foren wie Gulli.com oder Filmstarts.de waren thematische Treffpunkte. Virale Phänomene wie Kettenbriefe oder Memes machten schon damals die Runde.

Die Unterhaltung war ein Abenteuer. Browser-Spiele wie Hattrick, Moorhuhn, Die Stämme oder OGame begeisterten Millionen. Musik hören oder Videos schauen bedeutete, sich durch puffernde Streams von RealPlayer oder Winamp zu quälen, während Napster ab 1999 das Filesharing revolutionierte, bis die Musikindustrie gnadenlos einschritt. Ich erinnere mich gut, wie ich stundenlang auf einen Song meiner noch immer Lieblingsband Blink-182 wartete, nur um nach 30 Sekunden die Verbindung zu verlieren. Heute haben Spotify, YouTube und Twitch all das legalisiert, beschleunigt und algorithmisch optimiert.

Nach dieser ersten wilden Wachstumsphase kam die große Ernüchterung. Die Dotcom-Blase. 2000/2001 platzte der überhitzte Börsentraum von Internetfirmen, die Milliarden verbrannten, ohne Geschäftsmodell. Viele Start-ups verschwanden schneller, als man ihr Logo downloaden konnte. Die Lektion war klar, Wachstum braucht Substanz. Zumindest manchmal.

Ab 2003 begann die zweite Ära des Internets, bekannt als Web 2.0. Der Begriff klingt nach Technik, war aber eher kultureller Wandel. Nutzer wurden Produzenten. Blogs, Kommentare, Shares... jeder konnte mitmachen. Dienste wie LiveJournal und Blogger brachten das Tagebuch ins Netz, später folgten Movable Type und WordPress, die das Bloggen komfortabler machten. Kinotagebücher berichteten von „Matrix“, Nerds schwärmten von Grafikkarten, politische Debatten entfalteten sich in Kommentarspalten. Microblogs wie Tumblr oder Twitter kürzten die Texte, Newsletter-Formate wie Substack traten ins Rampenlicht, und Videos auf YouTube wurden zur neuen Norm.

Die Eltern heutiger sozialer Netzwerke nahmen langsam Fahrt auf. Friendster scheiterte am Hype, MySpace erlaubte HTML-CSS-Hacks, Musik-Embeds und die berühmt-berüchtigten Top-8-Freunde. In Deutschland dominierten Jappy(auf dem ich jedes Jahr zu Weihnachten brav meine virtuellen Rentiere versorgte), Knuddels und StudiVZ die Uni- und Freizeitnetzwerke. Facebook standardisierte alles, Algorithmen bestimmten, was man sah, Instagram machte das Foto zum Hauptinhalt. Das Surfen von damals, geprägt von Zufallsfunden und persönlichen Empfehlungen, wich der endlosen Scroll-Leiste.

Ab Mitte der 2000er änderte sich das Netz endgültig, Breitband und Smartphones machten alte Plattformen obsolet, während Google, Facebook und Amazon das offene Bastelfeld in überwachte Marktplätze verwandelten. Kaum jemand wollte noch HTML lernen, um eine Seite zu bauen. Doch die DIY-Kultur lebt weiter. IndieWeb kämpft für persönliche Websites, Mastodon und Pixelfed zeigen, dass dezentrale Netzwerke möglich sind, und das Internet Archive bewahrt Milliarden digitaler Schätze vor dem Vergessen.

Was ich heute manchmal vermisse, ist die ungebremste Kreativität und die bewusste, langsame Nutzung. Was ich nicht vermisse, sind Viren auf jeder dritten Seite oder das Offline-Sein, um die Telefonleitung nicht zu blockieren. Das Internet von damals war ein Bastelladen, wild, bunt, chaotisch und voller selbstgebastelter Ecken. Heute ist es ein Shoppingcenter. Früher baute man selbst, heute scrollt man. Wer genau hinschaut, findet das Chaos und die Optik der frühen Jahre noch immer. In Nischen wie Neocities, in Archiven wie Flashpoint oder bei denen, die das Netz nicht nur nutzen, sondern gestalten. Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder ein bisschen mehr zu trauen, statt stumpf in von Algorithmen getriebenen Bunkern zu sitzen.

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