Piehnat
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Barrierefreiheit im Internet - Zwischen Anspruch und Realität

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Barrierefreiheit im Netz ist einer dieser Begriffe, die Politiker gern in Sonntagsreden reinwerfen und Unternehmen in ihre Hochglanzbroschüren schreiben, weil es so schön nach Teilhabe und Fortschritt klingt. Die Praxis ist jedoch ernüchternd. Anspruch und Realität klaffen hier so weit auseinander, dass man fast glauben könnte, beide hätten sich noch nie persönlich getroffen.

In Deutschland leben rund 7,9 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung, dazu kommen sechs bis acht Millionen ältere Menschen, die schlicht keinen Nerv für winzige Schriftgrößen, graue Links auf grauem Hintergrund oder wild blinkende Pop-ups haben. Mit anderen Worten: ein riesiger Teil der Bevölkerung ist auf barrierefreie digitale Angebote angewiesen. Eigentlich sollte das reichen, damit Webseiten und Apps von vornherein für alle funktionieren. Eigentlich.

Die Realität? Ernüchternd bis peinlich. Laut einem aktuellen Bundesüberwachungsbericht ist keine einzige von rund 2000 untersuchten staatlichen Webseiten vollständig barrierefrei. Ja, null.

Im kommunalen Bereich sieht es nicht besser aus. Der Atlas digitale Barrierefreiheit von 2024 testete 11000 Kommunal-Webseiten und stellte fest, dass nur 3% die volle Punktzahl erreichten. Ganze 7% schafften die absolute Bankrotterklärung mit null Punkten, der Durchschnitt lag bei mickrigen 37 Prozent. Und die „Leichte Sprache“, die gerade für viele Menschen eine echte Hilfe wäre, war gerade einmal bei 11% vorhanden. Das ist ungefähr so, als würde man behaupten, man habe ein Restaurant „für alle“, aber in der Realität passt man mit dem Rollstuhl nicht durch die Tür.

Und die Privatwirtschaft? Nun ja, die glänzt auch nicht gerade. Die aktuelle Aktion Mensch Studie zeigt, dass nur ein Drittel der untersuchten Shops barrierefrei ist und das trotz Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes. Mangelnde Tastaturbedienbarkeit ist dabei wie in den Vorjahren die schwerwiegendste Barriere. Nur 20 von 65 untersuchen getesteten Webseiten waren allein über die Tastatur und damit ohne Maus bedienbar. Dabei stellt die Tastaturbedienbarkeit für viele Menschen mit Behinderung eine Grundvoraussetzung für barrierefreie Nutzung dar.

Der Testbericht zeigt außerdem, dass die meisten der getesteten Webseiten keinen sichtbaren Tastaturfokus bieten. Nutzer mit eingeschränktem Sehvermögen können folglich nur schwer erkennen, welches Element sie gerade ausgewählt haben. Hinzu kommen häufig fehlende Kontraste, was die Lesbarkeit von Texten oder das Identifizieren wichtiger Symbole beeinträchtigt. Auch eine falsche oder unlogische Tab-Reihenfolge macht es ihnen oft unmöglich, durch die Online-Shops zu navigieren, sich über Produkte zu informieren und diese auszuwählen. Eine weitere Hürde stellen eingeblendete Inhalte wie Banner oder Cookie-Overlays dar, die den Hauptinhalt der Webseite verdecken und sich nicht ohne weiteres schließen lassen.

Laut Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch "nehmen zu viele Unternehmen mögliche Bußgelder in Kauf und schließen noch immer Menschen mit Behinderung und damit potenzielle Kunden aus. Dabei liegt es auch in ihrem eigenen Interesse, dies zu ändern, denn von einem barrierefreien, komfortablen Zugang zu Webseiten profitieren letztlich alle.”

Dabei ist der gesetzliche Rahmen seit Jahren sonnenklar. International gilt der WCAG-Standard, in Deutschland regelt die BITV die Vorgaben für staatliche Stellen, und mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das am 28. Juni 2025 in Kraft trat, sind nun auch Unternehmen in der Pflicht. Online-Shops, Banken, Telekommunikationsanbieter.. Alle müssen ran. Wer es nicht tut, riskiert Bußgelder bis zu hunderttausend Euro oder gleich ein Verbot, sein Angebot weiter zu betreiben. Nur Kleinstunternehmen dürfen sich noch zurücklehnen. Für alle anderen gilt „Aussitzen“ wird spätestens 2030 keine Option mehr sein.

Und es geht hier nicht nur um die Menschen mit offiziell anerkannter Behinderung. Auch ältere Nutzer profitieren massiv davon, wenn Texte lesbar sind, Kontraste stimmen und Webseiten mit der Tastatur steuerbar bleiben. Im Prinzip profitieren alle. Denn eine barrierefreie Seite ist am Ende einfach eine besser nutzbare Seite. Dass diese simple Wahrheit in vielen Chefetagen und Entwicklungsabteilungen offenbar immer noch nicht angekommen ist, grenzt fast schon an Realitätsverweigerung.

Ich nehme mich hier selbst natürlich nicht aus. Mein eigener Blog hier auf Basis von HTMLy ist mein kleines Testlabor. Was lässt sich ohne Millionenbudget und ohne Entwickler-Armee praktisch umsetzen? Alt-Texte für Bilder? Pflicht. Kontraste und Typografie? Anpassbar. Tastaturnavigation? Läuft. Selbst Leichte Sprache versuche ich einzubauen. Ob das immer gelingt, weiß ich nicht. Aber eine Wand aus Fachbegriffen ohne Erklärung? Würde ich niemals posten. Klar, das kostet Zeit und manchmal Nerven, aber es lohnt sich. Und siehe da, es funktioniert. Wenn ich das mit überschaubarem Aufwand hinkriege, gibt es keine Ausreden für Kommunen oder Online-Shops mit viel größeren Ressourcen. Dass die trotzdem oft versagen, ist schlicht peinlich.

Dass wir im Jahr 2025 noch immer ernsthaft über fehlende Alternativtexte oder unbedienbare Menüs diskutieren müssen, ist schlicht ein Armutszeugnis. Gesetze sind verabschiedet, Studien liegen vor, die Zahl der Betroffenen ist riesig, und trotzdem passiert viel zu wenig. Wer das Thema weiter ignoriert, handelt nicht nur fahrlässig, sondern auch wirtschaftlich dumm. Denn neben drohenden Strafen und Bußgeldern verspielen Unternehmen und Institutionen vor allem eines: Vertrauen und Reichweite. Niemand bleibt gern auf einer Seite, die ihn ausschließt und schon gar nicht in einer Welt, in der Alternativen nur einen Klick entfernt sind.

Barrierefreiheit ist kein „Nice-to-have“ und kein freundlicher Bonus für besonders engagierte Projekte. Sie sollte das Fundament eines Internets sein, das diesen Namen verdient. Je länger wir so tun, als sei das optional, desto mehr verlieren wir als Gesellschaft, als Anbieter und letztlich auch als Nutzer. Ein barrierefreies Netz ist am Ende schlicht ein besseres Netz. Und wer das immer noch nicht verstanden hat, dem kann ich nur wünschen, er solle seine eigene Seite mal mit verbundenen Augen und einer defekten Maus ausprobieren. Vielleicht dämmert es dann.

Hier gibt es keinen Kommentarbereich. Wenn du Fragen oder Anmerkungen zu diesem Post hast, schreib mir gern ne Mail oder blogge selbst dazu. Peace.