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Werbeverbot für alle statt Social-Media-Verbot für Jugendliche
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Nicht wenige wollen jetzt Social Media für unter 16-Jährige verbieten, weil man die armen Jugendlichen ja vor bösen Einflüssen schützen muss. Klingt gut, wirkt fürsorglich, ist aber eigentlich Quatsch. Das Problem ist nicht Social Media selbst, sondern das Geschäftsmodell dahinter. Aufmerksamkeit verkaufen. Plattformen leben von Werbung, und Werbung lebt davon, dass wir möglichst lange, möglichst oft und möglichst emotional online sind. Deshalb zeigen uns Algorithmen auch nicht das „Beste“, sondern das, was uns am längsten fesselt. Und genau da entstehen diese berüchtigten Rabbit Holes, in denen du nach einem harmlosen Clip plötzlich in einer Flut aus extremeren, schrilleren und polarisierenden Inhalten landest, weil eben genau die am zuverlässigsten Werbeeinnahmen generieren. Dasselbe gilt für Filterblasen. Wer einmal in einem Themenbereich gefangen ist, kriegt überwiegend Futter, das die eigene Sichtweise bestätigt. Das heißt aber nicht, dass kritische Stimmen komplett verschwinden. Im Gegenteil, wenn sie genug Drama und Kontroverse erzeugen, können Algorithmen sie sogar noch pushen, weil Streit und Empörung oft länger binden als freundliches Kopfnicken. Am Ende ist es also egal, ob Bestätigung oder Widerspruch, hauptsache, du bleibst kleben.
Jetzt stell dir mal ein Werbeverbot in Social Media vor. Ohne die finanzielle Motivation, uns um jeden Preis festzuhalten, müssten Plattformen ihre Algorithmen anders ausrichten. Inhalte könnten wieder nach Relevanz, Qualität oder echter Interaktion ausgespielt werden, anstatt danach, wie lange sie dich hypnotisieren. Ja, klar, Menschen klicken immer noch lieber auf Drama als auf Sachlichkeit, aber der industrielle Turbo dahinter wäre raus. Das wäre nicht nur ein Schutz für Jugendliche, sondern für uns alle, weil Manipulation durch Algorithmen nicht an der Altersgrenze Halt macht. Natürlich wäre das ein radikaler Schnitt, weil das aktuelle Geschäftsmodell damit einfach tot wäre. X, Meta, TikTok, YouTube... alles läuft über Werbung. Ohne diese Kohle bleibt nur ein Abo-Modell, öffentlich finanzierte Plattformen oder das stille Sterben. Und ja, Abo klingt erstmal gut, aber es hätte eine soziale Kehrseite. Wer es sich leisten kann, bekommt Zutritt während der Rest draußen bleibt. Willkommen in der Zweiklassengesellschaft des Internets.
Über staatlich oder öffentlich finanzierte Modelle lachen wir zwar gern, aber streng genommen gibt es mit öffentlich-rechtlichen Medien längst ein funktionierendes Beispiel. Unbestritten, dass auch da nicht alles geil ist, aber ein Social Network auf dieser Basis wäre theoretisch möglich. Finanziert durch Gebühren oder Steuern, unabhängig von Werbegeldern, frei von der Jagd nach Klicks. Praktisch wäre das natürlich ein politisches Minenfeld, weil sofort die Debatte losgeht, ob der Staat das Netz „kontrollieren“ würde. Aber als Gedanke lohnt es sich, das nicht sofort abzuwinken.
Für Creator hieße der Bruch keine Werbedeals mehr, keine YouTube-Monetarisierung. Bleibt Patreon, Merch, Sponsoring, direkte Unterstützung. Also komplette Umstellung. Aber wäre das wirklich schlecht? Vielleicht würde sich die Landschaft endlich mal wieder von Grund auf verändern. Vielleicht gäbe es wieder Inhalte, die nicht nach „Wie halte ich dich am längsten auf der App?“ sortiert sind, sondern nach „Worüber willst du wirklich stolpern?“. Es wäre wie damals mit App.net. Der Versuch, ein Social Network ohne Werbung nur über Bezahlung aufzubauen. Ist gescheitert, weil die Masse lieber kostenlos wollte und sich dafür von Tracking, Werbung und Datenhandel in Geiselhaft nehmen ließ. Dasselbe Spiel sieht man heute im Fediverse. Qualitativ spannender, ethisch sauberer, aber Reichweite und Bequemlichkeit fehlen, weil kein Milliardenkonzern dahinter die Server bezahlt und aggressiv den Markt flutet. Und trotzdem ist es wichtig, dass es das gibt, weil es eben beweist, dass es auch anders geht.
Am Ende ist Werbung der Katalysator für das, was Science-Fiction-Autor Cory Doctorow „Enshittification“ nennt. Erst super, dann langsam schlechter, dann irgendwann komplett unbenutzbar, weil die Gier alles auffrisst. Man könnte auch sagen, Werbung ist das Heroin der Plattformen, und die User sind die Junkies, die irgendwann merken, dass die Droge nur noch kaputt macht. Ein generelles Werbeverbot wäre also wie kalter Entzug für das gesamte Ökosystem. Schmerzhaft, radikal, mit massiven Nebenwirkungen, aber vielleicht die einzige Chance, überhaupt mal rauszukommen. Realistisch? Wahrscheinlich nicht. Die Bequemlichkeit von kostenlos ist zu groß und die Werbeindustrie zu mächtig. Aber als Vision, als utopisches Gegennarrativ zur Dauerwerbeschleife, ist es extrem reizvoll. Ein Internet, in dem nicht Klicks und Verweildauer, sondern Menschen und Inhalte zählen.