Piehnat
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Buntes

Boomer entdeckt Anime - Neon Genesis Evangelion

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Ich kannte das 1995er Neon Genesis Evangelion lange nur vom Hörensagen. Ein weiterer Mecha-Anime eben, dachte ich. Große Roboter, dicke Explosionen, ein bisschen Sci-Fi und das war’s. Wie falsch ich lag, wurde mir erst bewusst, als ich anfing, die Serie wirklich zu schauen. Schon nach wenigen Folgen war klar, Evangelion ist nicht einfach nur ein Anime. Es ist eine emotionale Abrissbirne, eine philosophische Achterbahnfahrt und ein verdammt düsterer Spiegel für alles, was in einem Menschen kaputtgehen kann.

Shinji ist alles andere als ein typischer Held. Der Junge ist total verunsichert, hat massive Angst vor Ablehnung und will einfach nur echte Verbindung zu anderen. Die ganzen psychologischen Abgründe, die hier aufgerissen werden, fand ich richtig heftig und ehrlich. Besonders seine komplizierten Beziehungen zu Misato und Rei zeigen so gut, wie zerrissen er ist. Mal total unbeholfen, dann wieder fast schon toxisch und gleichzeitig kann gerade Shinji kann einen mit seiner Passivität auch ziemlich nerven. Manchmal wollte ich ihn einfach nur anschreien "Tu doch endlich was!“ Aber genau das macht ihn auch so realistisch.

Die Serie ist vollgestopft mit biologischen, militärischen, religiösen und psychologischen Anspielungen. Aber der eigentliche Kern ist das Innere der Menschen. Beziehungen. Identität. Das Gefühl, nicht zu genügen. Die Serie beginnt als klassische Mecha-Science-Fiction mit coolen Kämpfen gegen seltsame Wesen namens Engel und endet als schonungslos ehrliche Charakterstudie über Selbsthass, Angst, Isolation und das Bedürfnis, überhaupt zu existieren. Gerade am Ende wird es so abstrakt und kryptisch, dass ich stellenweise einfach nur ratlos vor dem Bildschirm saß. Es fühlt sich an, als hätte man den Faden verloren oder als wäre das Budget schlicht ausgegangen.

Schöpfer Hideaki Anno war während der Entstehung selbst schwer depressiv, das merkt man jeder Szene an. Er selbst sagte, er habe „vier Jahre lang nichts tun können“ und fühlte sich wie ein „gebrochener Mann“. Der Gedanke „Du kannst nicht weglaufen“ habe ihn letztlich dazu gebracht, die Produktion wieder aufzunehmen. Evangelion wurde so zu einer Art Selbsttherapie.

Anno begann sich intensiv mit Psychologie zu beschäftigen, um seine Charaktere glaubwürdig zu machen und fand dabei Worte für seine eigene Dunkelheit. In einer Zeit, in der psychische Gesundheit in Japan noch ein Tabuthema war, verarbeitete er seine Depression direkt in der Serie. Das führte nicht nur zu Produktionsverzögerungen und Spannungen hinter den Kulissen, sondern auch zu einer sehr emotionalen Tiefe. Gleichzeitig merkt man an einigen Stellen, dass Evangelion eben nicht glatt durchgeplant war. Manche Handlungsstränge wirken abgebrochen, manche Symbolik eher willkürlich zusammengestückelt.

Die Figuren sind nicht überhöht oder idealisiert. Sie sind kaputt, zerrissen, einsam. Shinji, der Protagonist, ist ein Paradebeispiel. Kein Held, sondern ein introvertierter Teenager mit einer Phobie vor Ablehnung und der panischen Angst, verletzt zu werden. Und genau darum geht’s. Um psychische Barrieren, dargestellt als sogenannte AT-Felder. Um Identität. Um Verlust. Um Schuldgefühle, die so tief sitzen, dass man lieber mit einem Monster kämpft als mit sich selbst. Das ist packend, aber eben auch oft unbequem und schwer verdaulich.

Das Bild zeigt eine Gruppe von Charakteren aus dem Anime "Neon Genesis Evangelion" in einer dramatischen Pose vor einem dunklen Hintergrund mit dem Titel "Welcome to the Apocalypse"

Neon Genesis Evangelion zieht sich dabei nicht an einer linearen Story entlang. Es experimentiert. Es bricht die Regeln. Es bricht auch dich, wenn du dich darauf einlässt. Es wird zunehmend kryptisch, religiös aufgeladen, voller Symbolik, aber nie wirklich platt. Begriffe wie Lilith, Adam, der Baum des Lebens oder die Lanze des Longinus kommen zwar vor, aber nicht, weil hier irgendjemand einen Bibelkurs geben will. Sondern weil die Serie sich dieser Mythen bedient, um tiefere Fragen zu stellen. Wer bin ich? Wer darf ich sein? Was passiert, wenn wir alle unsere Schutzschichten verlieren? Genau hier war ich manchmal hin- und hergerissen. Einerseits fasziniert, andererseits hatte ich das Gefühl, dass Anno so ziemlich jedes religiöse Symbol zeigt, ohne dass es immer eine klare Bedeutung hat.

Die Welt von Evangelion ist eine postapokalyptische. Der sogenannte Zweite Einschlag hat die halbe Menschheit ausgelöscht. Kein Meteorit, wie behauptet, sondern das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Experiments an einem gottähnlichen Wesen namens Adam. Seitdem bedrohen die „Engel“ die Welt, Wesen mit seltsamen Namen, inspiriert von biblischer und apokrypher Symbolik. Ihre Designs sind fremdartig, ihre Natur uneindeutig. Einige sind zerstörerisch, andere scheinbar nur auf Verbindung aus. Und der wahre Clou? Der Mensch selbst stammt in der Serie nicht von Adam, sondern von Lilith ab, einem zweiten göttlichen Samen, der versehentlich auf die Erde fiel.

Diese Mythologie wird nicht einfach runter erzählt, sondern durch Rückblenden, Andeutungen, pseudowissenschaftliche Dokumente und visuelle Symbolik vermittelt. Und mittendrin steht die Organisation NERV, offiziell gegründet, um die Engel zu bekämpfen, inoffiziell aber nur ein Werkzeug der geheimen Machtstruktur SEELE. Deren Ziel: die Menschheit in einen gemeinsamen Bewusstseinsbrei zu überführen, das Human Instrumentality Project. Kein Leiden mehr. Keine Trennung mehr. Aber auch keine Individualität. Spannend, aber ehrlich gesagt auch so verstörend dargestellt, dass ich manchmal einfach nur dachte „Okay, das ist jetzt wirklich weird.“

Das Ganze basiert lose auf der jüdischen Mystik (Kabbala), biblischen Symbolen und fiktiven Schriftrollen. Aber was hier wirklich erzählt wird, ist ein moderner Existenzialismus. Die Serie will nicht predigen. Sie will dir zeigen, wie es ist, mit sich selbst konfrontiert zu sein. Was es bedeutet, sich selbst zu hassen und gleichzeitig nach Nähe zu verlangen.

Auch die Charaktere spiegeln diese Themen wider. Rei Ayanami, die seelenlose Puppe mit Rest-Emotionen einer Urmutterfigur. Asuka Langley Soryu, das laute, stolze, zerbrechliche Kind mit Kindheitstrauma. Misato, die alkoholkranke Ersatzmutter mit Schuldkomplex. Und Gendo Ikari, Shinjis Vater, der alles manipuliert, nur um wieder mit seiner verstorbenen Frau vereint zu sein, koste es, was es wolle. Sogar seine eigene Menschlichkeit. Das ist brillant gezeichnet, aber gleichzeitig ist es echt anstrengend, weil es keinen wirklich sympathischen Charakter gibt, an den man sich hängen könnte. Jeder ist beschädigt, und manchmal wollte ich einfach, dass jemand einfach nur mal was Nettes tut.

Dann gibt es da noch EVA-01. Kein Roboter, sondern ein biomechanisches Wesen mit einer Seele, die von Shinjis Mutter, Yui. Und die Entry Plugs, gefüllt mit LCL, einer Flüssigkeit, die im Grunde das Blut Liliths ist. Das sind für mich keine Sci-Fi-Spielereien, das sind Metaphern für Verbindung, Verschmelzung, Auflösung. In Evangelion wird nicht einfach nur gekämpft, in Evangelion zerfallen Menschen.

Und genau das ist das Geniale daran. Die Serie stellt keine Fragen, die man einfach beantworten kann. Sie zeigt keine Welt, die man eindeutig einordnen kann. Sie konfrontiert dich mit Widersprüchen. Mit dunklen Impulsen. Mit dem Wunsch, zu verschwinden und gleichzeitig mit dem Wunsch, endlich gesehen zu werden. Gleichzeitig hat mich genau das manchmal erschöpft. Evangelion verlangt viel von einem. Konzentration, Geduld und die Bereitschaft, sich auf Chaos einzulassen.

Was Evangelion für mich so besonders macht, ist die Art, wie es mit klassischen Genre-Erwartungen bricht. Klar, es gibt coole Kämpfe gegen die mysteriösen Engel, und die Animation ist top, aber der wahre Kern ist Shinji und seine innere Reise. Dazu kommt noch die düstere Atmosphäre, die mich oft echt mitgenommen hat. Gleichzeitig verstehe ich total, warum viele Leute mit der Serie überhaupt nichts anfangen können. Zu sperrig, zu kryptisch, zu wenig Auflösung.

Mich hat das Ganze nachdenklich zurückgelassen, nicht nur wegen der Action, sondern vor allem aufgrund der Themen wie Vaterkomplexe, Schuld und der Suche nach Erlösung. Wer Anime mag, die nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anregen, ist hier absolut richtig, vorausgesetzt, man bringt die Geduld für ein Werk mit, das manchmal mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet.

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